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Interview zur Zukunft der Arbeit: „Wir müssen insgesamt das System hinterfragen“

Mobiles Arbeiten ist in der Pandemie für viele Menschen zur Realität geworden. Im Interview spricht Ole Wintermann von der Bertelsmann-Stiftung unter anderem darüber, ob es ein Zurück zum alten Büro-Alltag geben wird, welche Auswirkungen digitales Arbeiten für die Entwicklung der Städte hat – und welchen Fragen sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stellen müssen.

Herr Wintermann, laut einer Befragung aus dem Februar 2021 arbeiteten im vergangenen Jahr bis zu 27 Prozent der Beschäftigten in Deutschland zur gleichen Zeit im Home Office. Vor der Corona-Krise waren es nur vier Prozent. Gehen wir dahin zurück, sobald die Inzidenz nur ausreichend gefallen ist?

Das Thema ist hochemotional, weil damit eine Kulturfrage verbunden ist. Nämlich die Frage, wer kann eigentlich darüber bestimmen, wo ich arbeite? Bin ich das selbst, der die Arbeitskraft managen muss, oder bestimmt der Arbeitgeber darüber, wo ich am produktivsten arbeite?

Das Potenzial für mobiles Arbeiten ist riesig, es betrifft nach verschiedenen Studien zumindest 11 Millionen Erwerbstätige in Deutschland. Und was man in verschiedenen Umfragen sieht, ist: Die Menschen wollen nicht zurück zum alten. Wir haben im Dezember Zahlen veröffentlicht, da ist deutlich geworden: Über die Hälfte der Befragten wollen nach Corona regelmäßig im Home Office arbeiten.

Das Problem ist, dass in der gleichen Studie 75 Prozent der Führungskräfte gesagt haben: Das wollen wir nicht. Wir wollen wieder zurück zum alten. Da müssen sich die Arbeitgeber jetzt fragen, wem sie folgen.

Werden wir die Pandemie in einigen Jahrzehnten als Aufbruch in eine neue Arbeitswelt verstehen?

Definitiv. Aber das ist natürlich Kaffeesatz-Leserei. Wir können keine Studie darüber machen, wie die Menschen das in 30 Jahren sehen werden. Aber aus vielen Gesprächen sind wir uns da sehr sicher. Die Menschen haben, nachdem es jahrelang verhindert wurde, plötzlich gemerkt, wie viel Freiheit sie mit mobiler Arbeit bekommen. Und davon wollen sie nicht wieder weg. Sie erleben Eigenständigkeit, Selbstbestimmtheit, Selbstmanagement, Selbstwirksamkeit. Darüber hinaus hat das auch für die Arbeitgeber große Vorteile: Mehr Produktivität, weniger Bürokosten, weniger Immobilienkosten, weniger Stromkosten.

Sind Ausgaben für Büroflächen in einer digitalen Arbeitswelt verschwendetes Geld?

Die derzeitige Bürofläche scheint verschwendetes Geld werden zu können. Wir haben auch eine Studie veröffentlicht zu Orten des Arbeitens, insbesondere auf dem Land. Das hat so viele Vorteile: Sie müssen nicht pendeln, es ist also nachhaltiger. Sie geben weniger Geld fürs Pendeln aus, Sie haben mehr Lebensqualität, mehr Vereinbarkeit und geringere Wohnkosten. Da fällt es schwer, dagegen zu argumentieren.

Könnte die Digitalisierung dem Trend zur Urbanisierung entgegenwirken?

Darüber besteht noch keine Einigkeit. Aber Arbeitswissenschaftler sagen ja, das wird sich ändern. Man muss davon abstrahieren, was man selbst gut oder schlecht findet. Was ist zukünftig noch, ganz funktional gesehen, der Zweck einer Stadt? Das Einzige, was wirklich noch zählt, ist, dass man sich in einer Fußgängerzone in ein Café setzt und dass es dort vielleicht interessante Geschäfte gibt, in die man wirklich hineingehen möchte. Warum soll ich sonst in eine Stadt ziehen, die laut ist, die eine schlechte Luftqualität hat, die teuer und in der es eng ist? Das fragen sich immer mehr Menschen. Politik und Wirtschaft müssen darauf eine Antwort finden.

Nun sprechen wir von Menschen, die problemlos in die digitale Sphäre wechseln können. Aber für viele Erwerbstätige ist das nicht möglich. Ergeben sich daraus soziale Konflikte zwischen denen, die mobil arbeiten können und jenen, die durch einen Arbeitsplatz an ihre Scholle gebunden sind?

Niemand ist jemals auf die Idee gekommen, Bauern seien privilegiert, weil sie in der Natur arbeiten können. Ich halte diese Neiddebatte für kontraproduktiv. Es geht ja nicht um Privilegien einiger weniger, sondern ungefähr 11 Millionen Menschen könnten davon profitieren. Im Übrigen haben sich Arbeitsweisen schon immer verändert. Warum sollen jetzt 11 Millionen Menschen nicht mobil arbeiten dürfen, weil andere Menschen einen Arbeitsplatz haben, den sie nicht verlassen können? Und wer in Deutschland ist denn dagegen, dass diese Flexibilität genutzt wird? Manche Arbeitgeberverbände scheinen verstärkt ein Problem mit dieser Flexibilität zu haben.

Die Frage war weniger, ob man den Menschen das mobile Arbeiten untersagen sollte, sondern bezog sich darauf, was das mit dem sozialen Zusammenhalt und mit den Lebensrealitäten der Menschen macht. Ob da Gruppen auseinanderwachsen.

Darüber gibt es noch keine Studien, weil es noch nicht so lange in der Breite stattfindet. Es gibt die These von der digital bedingten Vereinsamung. Aber es hat sich inzwischen gezeigt, dass das eine Minderheit trifft und vor allem dann passiert, wenn die Beschäftigten in mobilem Arbeiten nicht fortgebildet wurden. Man kann mobiles Arbeiten nicht von heute auf morgen machen, das funktioniert nicht. Man muss fortgebildet werden, und darum haben sich Arbeitgeber mehrheitlich seit Jahren nicht gekümmert.

Gegenseitige Wertschätzung und Entschleunigung, schreiben Sie in einem Artikel, zählen zu den am häufigsten für den Arbeitsbereich identifizierten Zukunftstrends. Wie verträgt sich das mit der ständigen Verfügbarkeit, die durch digitale Kommunikation entsteht?

Mit Wertschätzung ist gemeint, dass eine Kommunikation auf Augenhöhe immer wichtiger wird. Es wird ja häufig die These vertreten, digitale Kommunikation sei nicht sozial und entferne die Menschen voneinander. Aber unsere Erfahrung ist eigentlich das Gegenteil. Rollen, Funktionen und Hierarchien werden unwichtiger. Wenn der männliche Alpha-Kollege im Sitzungsraum laut wird oder mit den Armen fuchtelt, dann ist klar, wer der Boss ist. Das geht digital nicht. Man muss sich digital mehr auf Augenhöhe begegnen. Und Augenhöhe bedeutet Wertschätzung.

Entschleunigung ist eher eine Soll-Prämisse. Natürlich führt digitales Arbeiten erst einmal zu einer Beschleunigung, zu einer Verdichtung. Deswegen ist das Selbstmanagement so wichtig. Und dass man sich selbst gegenüber achtsamer wird, um durch die Arbeitsverdichtung nicht unter Stress zu geraten.

Mobiles Arbeiten kann auch entgrenzen, sodass es keine klare Trennung mehr gibt zwischen Büro und Privatem, sondern Laptop und Smartphone ständig verbunden bleiben.

Auch hier gilt wieder Selbstmanagement. Man muss es lernen, den Deckel vom Notebook zuzuklappen. Das muss aber jeder selbst – mit Unterstützung durch seinen Arbeitgeber – lernen. Wenn jemand sagt, das treibt mich in die Entgrenzung, dann muss man sagen: Aber nur du kannst das ändern.

Diese Abgrenzung von beruflich und privat tangiert einen interessanten weiteren Punkt: Dieser Gegensatz wird häufig dann stärker wahrgenommen, wenn es um einen Job geht. Wenn es um einen Beruf geht, spielt das weniger eine Rolle. Wenn das Kind um 19 Uhr abends etwas möchte und auf der anderen Seite auch noch eine spannende Veranstaltung ist, wenn ich dann kein Problem damit habe, die Veranstaltung beiseitezuschieben, dann ist es mit Sicherheit entweder nur ein Job und kein Beruf – oder ich weiß, wie wichtig Vereinbarkeit ist.

Wie unterscheiden Sie zwischen Job und Beruf?

Ich übe einen Job aus, weil ich dafür Geld bekomme. Ich übe einen Beruf aus, weil ich ihn liebe. Wir sprechen hier natürlich mehrheitlich über Menschen, die Wissensarbeiter sind, die mobil arbeiten können.

Wenn wir über Arbeit sprechen, meinen wir damit zumeist bezahlte Tätigkeiten. Zunehmend rückt aber in den Fokus, dass viele Arbeiten, wie im Care-Bereich, häufig unbezahlt verrichtet werden. Brauchen wir da einen Kulturwandel?

Jein. Ja, weil auf Dauer eine solche Ungleichbehandlung in der Bezahlung nicht zu rechtfertigen ist. Ich würde das nicht nur auf Care-Arbeit konzentrieren. Ich würde insgesamt hinterfragen, wie das Lohngefüge ist. Wenn ich Autoverkäufer bin, verdiene ich mehr als eine Pflegekraft im Krankenhaus zu Corona-Zeiten. Warum bewertet der Markt das höher als die Pflege von Menschen?

Uns muss klar sein: Wo kein Einkommen generiert wird, dort können wir auch kein Einkommen zahlen. Bei Care-Arbeit wird kein klassisches Einkommen generiert. Also müssen wir als Gesellschaft schauen, wie wir dieses Problem angehen können. Es reicht nicht aus, ein Einkommen zu fordern, wenn das System an dieser Stelle kein Einkommen anbietet. Wie können wir das ändern?

Um das Ja und das Nein zu adressieren, müssen wir den Markt hinterfragen. Und wir selbst sind alle der Markt. Wir geben 700 Euro im Monat für eine neue Blechkiste aus, aber beschweren uns, wenn wir 400 Euro für die Kranken- und Pflegeversicherung bezahlen. Deswegen reicht es auch nicht, wenn die Pflegekräfte höhere Gehälter bekommen. Das ist richtig, aber es reicht nicht. Wir müssen insgesamt das System hinterfragen, das die Befassung mit Materie deutlich höher bewertet als die Befassung mit Menschen.

Würden Sie an dieser Stelle mehr staatliche Regulierung fordern?

Nein, ich glaube, dazu wäre es zu früh. Die Debatte ist noch nicht so ausgereift. Die Degrowth-Fraktion geht ja in diese Richtung, andere Bewertungslogiken in die Debatte einzubringen. Ich halte das für sinnvoll, aber wir befinden uns am Anfang des Diskurses. Da würde ich ungern sagen, es gäbe ein Patentrezept. Wir müssen leider erstmal lernen, darüber zu reden.

Zur Person
Bildrechte: Kai Uwe Oesterhelweg

Dr. Ole Wintermann ist Projektmanager bei der Bertelsmann-Stiftung und beschäftigt sich seit einigen Jahren mit zukünftigen Formen der Arbeit sowie mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Die im Interview getätigten Aussagen stellen die Privatmeinung von Herrn Wintermann dar.

Bild von Free-Photos auf Pixabay

 

2 Kommentare

  1. Der Aspekt der Minimierung von Machtinsignien verdient besondere Beachtung. Die den Gesprächen mit Vorgesetzten vorgelagerten Rituale entfallen, wie z.B der Anruf aus dem Vorzimmer des Top Managers, der Weg dorthin, das Warten vor der geschlossenen Türe des besonders gesicherten Vorstandsbereiches, das weiteren Wartens im Vorzimmer, das Herein-Gerufen-Werden in das Chefzimmer, das Bewirtet-Werden durch die Assistentin und der jovialen Gesprächsbeginn des Chefs. Statt dessen der Hilferuf aus dem Munde des Machtträgers aus dem Bildschirm „was muss ich machen, hier steht teilen Sie bitte den Bildschirm“. Dies alles ergibt eine neue egalitäre Augenhöhe zwischen den Interaktionspartnern.

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